Emmas Paradies auf Erden
[dropcap]E[/dropcap]mma schlüpft in ihre festen Schuhe, zieht die Strickjacke über, schnappt sich den langen Schlüssel vom Brett und geht zur Haustür hinaus. Sie spaziert quer über die Straße und lächelt, denn ein lauer Frühlingswind weht durch ihre schlohweißen Haare, die ihr ohne Haarnetz bis über die Schulter reichen würden. Da ist er schon, ihr Himmel auf Erden. Mit dem Schlüssel öffnet sie das alte Holztor und schreitet in ein Meer aus Tulpen. Spatzen schilpen, eine Amsel sucht nach fetten Regenwürmern, Hummeln brummen durch Emmas Mirabellenbaum und schwirren weiter zur Aprikose. Emma steuert auf die roten Ziegelsteine in der Gartenmitte zu. Schiefe Treppenstufen führen hinab in einen Keller, einen Keller ohne Haus darauf, das wurde damals zerbombt. Aber der Keller hat sie gerettet.Soll ich meinen Garten verrenten oder nicht?
„Das kann ich doch nicht verkaufen“, geht es Emma immer wieder durch den Kopf. „Das ist mein Leben! Da können die mir bieten, was sie wollen! Aber wenn ich meinen Garten weiterhin nutzen könnte und ihn schon an jemanden verkaufe, der hier einmal bauen will? Das ist immerhin beste Lage, so mitten in der Stadt!“ Emma grübelt, denn die vielen Dinge, die sie in ihrem Himmel auf Erden gern noch ändern würde, kosten viel Geld, was sie nicht hat.
Emma steigt vorsichtig die glatten Stufen zum Gerätekeller hinab und hält sich notdürftig an den Ruinen fest, denn ein Geländer gibt es nicht. Dann zieht sie dicke Gartenhandschuhe über und holt vorsichtig Harke und Hacke aus dem Keller. „Pass auf mit dem scharfen Zeug“, murmelt sie vor sich hin und denkt an den Bericht der Dekra neulich, bei dem von über 200.000 Gartenunfällen pro Jahr gesprochen wurde, davon knapp die Hälfte durch scharfe und spitze Gegenstände. „Dich müsste ich zurechtstutzen, mein Lieber“, raunt Emma dem Süßkirschbaum entgegen und freut sich auf die Kirschen im Sommer, natürlich auf die, die ganz unten hängen. Auf eine Leiter klettert Emma nicht mehr. Sie ist allein und alt, genau wie ihre Leiter. Emma geht ganz langsam über den schmalen, unebenen Gartenweg. Dicke Baumwurzeln haben die Pflastersteine aus den Angeln gehoben. Ein breiter, ebener Weg, das wäre was!
Emma schnappt ihr Kniekissen, lässt sich vor einem Beet nieder und geht dem Unkraut an den Kragen. Ach ja, denkt sie sich, ein paar bequeme Hochbeete, auf dessen Rand ich mich ausruhen könnte, wären nicht schlecht. Da hätten auch die Schnecken nicht so ein leichtes Spiel. Die Sonne prallt, es hat lange nicht geregnet. Emma zögert nicht, geht zum Brunnen und pumpt Wasser in ihre große Gießkanne, aber nur halb voll, denn schwer tragen kann sie nicht mehr. Der Garten ist groß und alle Blumen haben Durst. Da träumt Emma von Schläuchen, die sich quer durch alle Beete ziehen und mit einem Dreh den ganzen Garten berieseln. „Den Rasen gieße ich nicht. Er ist ohnehin ein Wildrasen, meine Schmetterlingswiese, meine kleine Idylle.“ Für eine halbe Stunde setzt sich Emma auf ihre Holzbank auf der Wiese, legt die Füße auf einen Holzklotz, erfreut sich an den gelben und rosafarbenen Blüten und beobachtet ihre stummen Gäste: Zitronenfalter und Pfauenauge. Sie schließt ihre Augen, riecht den vorbeiströmenden süßlichen Duft und lässt sich von der Sonne verwöhnen. Sie grinst, weil sie den Nachbarn Rasen mähen hört. „Wenn ich einen langweiligen Rasen hätte, würde ich mir einen Robotermäher anschaffen, der mäht ganz allein.“ Es wird heiß auf Emmas Kopf, schnell holt sie sich den Sonnenhut aus der Tasche und trinkt einen Schluck Wasser.
Emmas Blick streift die Apfelbäume und die üppige Hecke. „Da müsste ein Gärtner ran. Das schaffe ich nicht mehr alleine. Am besten, ich frage bei einigen Gärtnern in der Nähe nach, was sie fürs Hecke- und Baumschneiden verlangen“, nimmt sich Emma fest vor und lehnt sich entspannt zurück. „Ich habe Zeit, erst wenn die Dämmerung hereinbricht, muss ich wieder im Haus sein,“ geht es Emma durch den Kopf, denn ihre Wege sind nicht beleuchtet, abgesehen von zwei kleinen Solarlampen, die sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hat.
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Emma ist sehr alt geworden. Spaziergänger entdeckten sie in einem Beet aus Löwenmäulchen liegend, in der Hand eine kleine Harke.
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